Wie entsteht Wissen?


Beim interaktiven Vortrag von Professor Dr. Martin Kramer ändern Lehrer und Schüler den Blickwinkel

Lernende werden zu Abenteurern, Lehrer zu Wegführern, Klassenzimmer zur ereignisreichen Lernumgebung. Schüler von Heute werden in der Zukunft Herausforderungen lösen, die uns heute noch weitgehend unbekannt sind. Rasante gesellschaftliche Veränderungen erfordern einen Perspektivenwechsel in den Lernmethoden. „Niemand glaubt heute mehr ernsthaft an die Trichter-Methode“, sagt Professor Dr. Martin Kramer.

„Unterricht als Abenteuer“ nennt er seinen Vortrag, den er diese Woche vor Lehrern, Direktoren, Schülern und Eltern aller Schularten im Wertinger Schloss gehalten hat. Die Lernmethode, nach der möglichst viel eingepaukt wird, habe sich nicht bewährt. Erfahrungsgemäß werde nach der Schulzeit viel vergessen. Im Verhältnis zum Aufwand bleibe wenig Wissen hängen. Für Martin Kramer sind daher selbstständiges Denken und Kompetenzorientierung gefragt.

„Das Gehirn ist kein Datenspeicher, sondern ein autonomer Datengenerator“, so Kramer. Deshalb sei die aktuelle „Gretchenfrage“ für Lehrende und Lernende: „Wie entsteht Wissen und wie geschehen Lernprozesse?“ Als Mathematiklehrer, Theaterpädagoge, Buchautor und vor allem Leiter des Bereichs Didaktik für Mathematik an der Universität Freiburg hat sich Kramer intensiv mit konstruktivistischer Lerntheorie beschäftigt.

Bei facettenreichen Interaktionen wechseln im Wertinger Schlosssaal so rund 200 Zuhörer die Perspektive, unter ihnen Schulamtsdirektor Wilhelm Martin und Schulrat Markus Wörle. „Das brauche ich nicht zu lernen, das habe ich erlebt“ – Schüler nähern sich im Spiel und mit Spaß einem Thema an, beispielsweise einem naturwissenschaftlichen Thema aus der Mathematik oder der Physik. Eine offene Unterrichtsituation ist Grundlage für eine individuelle Lernumgebung. Schüler machen praktische Erfahrungen und stoßen dabei selbstständig zu zentralen Einsichten vor.

Die Wahrheit beginnt zu dritt, eine Lebensweisheit, die auch für Lernprozesse zutrifft. Deshalb werden drei Blickwinkel, die der Schüler, der Lehrer und der Eltern gesehen. Nach der systemischen Sichtweise ist Unterricht Beziehungsarbeit. Im Vordergrund steht nicht der Lernstoff, auch nicht dessen Vermittlung, sondern die Begegnung zwischen dem Lernenden und dem Wissen. Gestaltet der Schüler den Lernprozess und die Umgebung mit, wird Unterricht zur eigenen Sache. Wer in der Gruppendynamik einer Klasse keine Rolle spielt, fühlt sich nicht gesehen und hat demzufolge das Gefühl, während des Unterrichts abtauchen zu können.

Dem Lehrer kommt eine neue Rolle zu. Er beschult nicht, sondern gestaltet eine Lernumgebung. Er schafft Lernangebote, stellt Wissensquellen bereit, beobachtet und begleitet den Prozess. Lernen ist für Kramer ein individueller Verdauungsprozess. Dabei hat der Lehrer nicht in der Hand, was im Schülerkopf entsteht. Es gibt demnach keine Objektivität dafür, wie der Lernende seine Erfahrung verarbeitet. Jeder Mensch konstruiert sich sein eigenes Gedankengebilde und seine eigene Wirklichkeit. Schließlich entscheide der Lernende darüber, was gelehrt wurde.

Damit Wissen wachsen kann, brauche es eine geeignete Lernumgebung. Diese sei persönlich unterschiedlich. Schüler, Eltern und Lehrer schreiben während des Vortrags auf Wandtafeln, in welcher Umgebung sie am besten lernen: bei Musik, alleine im stillen Kämmerlein, in der Natur oder in Gesellschaft am Küchentisch – die Bandbreite ist groß. Das Delegieren von Verantwortung an die Schüler entlastet Lehrer. Die Schüler gestalten mit. Das Klassenzimmer wird zum Ort eines lustvollen, kompetenzorientierten Erlebens und der Unterricht zu einem erkenntnisreichen Abenteuer.

[Artikel aus der Wertinger Zeitung | 16.04.2016, Foto: Ulrike Walburg]